Ein Erlebnisbericht über unseren Dunkelgottesdienst von Thomas Stetter, Stuttgart.
Blinde und sehbehinderte Menschen nehmen die Welt anders wahr als Menschen mit gesunden Augen. In unserem Dunkelgottesdienst innerhalb der Woche des Sehens hatten nun auch die „Sehenden“ Gelegenheit nach zu fühlen, wie das ist, wenn man so beiläufig sagt: „wir sehen uns“ oder wenn die Kinder spielen: „ich sehe was, was du nicht siehst“. Das Licht ist fort, die Augen sind offen, aber der Blick geht ins Leere, in die Dunkelheit. Sehen – eine Fähigkeit, deren Bedeutung der Mensch erst dann wahrnimmt und zu schätzen weiß, wenn er nicht mehr sehen kann. Die rund 400 Besucher des Dunkelgottesdienstes im Ökumenischen Gemeindezentrum St. Augustinus in Stuttgart Neugereut hatten dazu am Freitag, 10.10.2014 ausführlich Gelegenheit. Hinter Dunkelbrillen, welche von der Lufthansa gesponsert wurden, sind die Augen versteckt. Und in dem Moment erhalten sie, vielleicht das erste Mal, einen Eindruck, wie schwer es Blinde und Sehbehinderte in einer ansonsten sehenden Welt haben. Aber die Dunkelbrille öffnet auch, nicht nur die Augen, sondern ganz besonders auch die Ohren. Schon nach kurzer Zeit ist der Gehörsinn voll in Action. Und plötzlich nimmt der Besucher das Knistern der Verpackung der Dunkelbrille wahr.
In der hinteren Reihe hustet ein Mann ziemlich laut. In der Bank vor mir tuscheln zwei Stimmen leise miteinander. Ab und zu hört man das Bellen eines Blindenführhundes, der sich in „seiner Andacht“ gestört fühlt. Und dann ist da plötzlich die Musik als zentrales Element des Dunkelgottesdienstes. Auf die Ohren der Gemeinde treffen nun unterschiedliche Hörreize. Da sind mit einem Male die majestätischen Klänge der Orgel. Dann setzen Alphörner ein. Vor unserem inneren Auge erscheint das Bild einer Berglandschaft, grüne Almen und ein blauer Gebirgssee. Beim nächsten Lied spielt eine Band mit Keyboard, Gitarre, Trompete, Bass und Schlagzeug und anderen Instrumenten. Ein Gospelchor intoniert schwungvolle Lieder und (man möge mir diesen Ausdruck verzeihen) kirchliche Gassenhauer, alles Melodien, welche die Besucher schon öfter gehört haben, wie „oh when the sens“ und „o happy Day“. Aber das Mitsingen gestaltet sich a bissle schwieriger als sonst, denn für Blinde und Sehbehinderte sind ein Gesangbuch oder ein extra Liedzettel vollkommen nutzlos. „Es sind ja alle blind“. Und so hat der Chor einen ungewöhnlichen, aber vollkommen logischen Weg gewählt. Der Text wird vorgelesen und vorgesungen, die Gemeinde singt dann plötzlich mit. Und klatschen und swingen, das ist ausdrücklich erwünscht.
Die Idee zu einem Dunkelgottesdienst existiert schon länger als 1 Jahr. Die evangelische Pfarrerin Dorothee Niethammer-Schwegler und ihr katholischer Kollege Oliver Lahl waren von der Idee sofort begeistert. Die Pfadfinder aus Neugereut waren aktiv dabei und haben die Blinden und Sehbehinderten Menschen in einem „Bring In“ Dienst von der Straßenbahnhaltestelle in das Ökumenische Gemeindezentrum begleitet. Jeden Tag eine gute Tat. Aber nicht nur das Gehör, auch die anderen Sinne kompensiert das fehlende Augenlicht und sie werden im Gottesdienst eigens angesprochen, das Hören, auch aufeinander Hören, der Tastsinn, der Geruchssinn. Tastsäckchen mit Gerüchen wie Lavendel und Zitronenduft gehen durch die Reihen. Auch Säckchen zum Ertasten mit Nudeln, Schrauben, Legosteine, kleine Spielzeugautos und andere Dinge kann man, mal mehr, mal weniger gut ertasten. Ein Licht gibt es heute beim Dunkelgottesdienst nicht, nur ein paar Kerzen am Altar leuchten und helfen den Pfarrern beim Lesen ihrer Notizen.
Irgendwann spricht dann in der Dunkelheit eine Stimme, die fast alle schon einmal gehört haben. Aber zur Sicherheit sagt es der Sprecher noch einmal: „ich bin es, der Erwin Teufel“. Der ehemalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg und Schirmherr der heutigen Veranstaltung spricht ein Grußwort. Und erinnert an einen ganz wichtigen Satz von Antonie de Saint-Exupéry: „Man sieht nur mit dem Herzen gut – das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar. Wenn unsere sehenden Besucher sich diesen Satz zu Herzen nehmen, werden sie vielleicht ihren Blinden und Sehbehinderten Mitmenschen in Zukunft offener und mit mehr Rücksicht gegenübertreten. Im Anschluss an den Dunkelgottesdienst gab es im Foyer einen „Ständerling“, Hocketse kann jeder, aber ein Ständerling ist mal was anderes. Auch hier sind Blinde und sehbehinderte Menschen mit Infoständen dabei, mit den Blindenführhunden, unser Show-Down Spiel hatte Premiere. Es kommt aus Kanada und ist ein Tischballspiel, welches von Sehenden und Nichtsehenden Menschen gemeinsam gespielt werden kann. Wir zeigten, wie Blindenschrift (Braille) und ein Blindenlangstock funktionieren und welche kleinen Hilfsmittel es gibt, um den Alltag für blinde und sehbehinderte Menschen zu erleichtern.
Musikalisch wurde der Ständerling untermalt vom GISMO GRAF TRIO aus Stuttgart-Zuffenhausen. Wenn es dann am Ende des Dunkelgottesdienstes gelungen ist, zu überzeugen, dass die blinden und sehbehinderten Menschen keine Exoten sind, sie auch nicht unter Artenschutz stehen und die Hindernisse im Alltag weniger werden, dann ist ein wichtiges Ziel erreicht. Armin Holzer, ein weltweit bekannter, blinder Alpinist hat vor kurzem in einer Talkshow bei Reinhold Beckmann den wichtigen Satz gesagt: „Wir müssen den Sehenden die Augen öffnen“. Recht hat er, der Armin Holzer. Und wenn uns dies heute mit dem Dunkelgottesdienst gelungen ist, dann war die Veranstaltung ein voller Erfolg.
Ein ganz besonderer Dank gilt den Sponsoren AOK Baden-Württemberg, DAK Stuttgart und die Deutsche Lufthansa, die Daimler AG, Kärcher Reinigungsgeräte, Optik Marx, Shimano Paul Lange, Augenärzte Dr. Kaufmann, ohne deren Engagement eine solche Veranstaltung nicht möglich ist. Danke auch für die Opfergaben, welche wir an die PRO RETINA Stiftung weitergeleitet haben. Danke auch an Herrn Ministerpräsident a.D. Dr. h.c. Erwin Teufel für sein Grußwort und sein Kommen. Wir alle haben uns darüber sehr gefreut.
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